Philosophie

Selbstverwirklichung

Selbstverwirklichung

In einer Zeit, in der Frauen auf dem indischen Subkontinent gesellschaftlich und religiös nicht anerkannt waren, gelang ihr genau das: Anandamayi Ma (1896-1982) wurde zur bekanntesten Hindu-Frau und religiösen Führerin des 20. Jahrhunderts in einem Umfeld, in dem Frauen sonst weder gesehen noch gehört wurden.

Prägende Kindheit

Anandamayi Ma wurde 1896 in Ostbengalen, dem heutigen Bangladesch, geboren. Ihre Eltern gaben ihr den Namen Nirmalā Sundarī Devi. Sie wuchs in einem religiösen Umfeld auf, das von einer muslimischen Mehrheit und einer hinduistischen Minderheit geprägt war.

Obwohl sie in die angesehene Kaste der Brahmanen hineingeboren wurde, lebte ihre Familie in ärmlichen Verhältnissen. Ihre Mutter gebar mehrere Söhne, die jedoch alle früh starben.

Frühe Ehe & spirituelle Erfahrungen

Wie damals üblich, wurde sie im Alter von 12 Jahren und 10 Monaten mit einem 15 Jahre älteren Mann verheiratet. In den ersten Ehejahren lebte sie abwechselnd bei ihrem Mann und bei ihren Eltern. In der Zeit, in der sie bei ihrem Mann lebte, musste sie viel und hart arbeiten. Bei ihren Eltern wurden ihr viele dieser Pflichten abgenommen.

Die höchste Berufung eines Menschen besteht darin, nach Selbstverwirklichung zu streben. Alle anderen Verpflichtungen sind zweitrangig.

  • Anandamayi Ma

Sie begann, heimlich den Namen Krishna, einen der populärsten Gottheiten des Hinduismus, zu wiederholen. Im Alter von 17 Jahren, so die Überlieferung, hatte sie ihre ersten religiös-ekstatischen Erfahrungen. Ihre Eltern und ihre Umgebung glaubten, sie sei verrückt geworden. Ihr Mann nahm sie jedoch in Schutz, obwohl die Ehe aufgrund dieser Ereignisse nicht physisch vollzogen werden konnte, wie Anandamayi Ma berichtete.

Bengalische Mutter

Ganz gleich, wo sie sich aufhielt, Anandamayi Ma inspirierte die Menschen in ihrer Umgebung. Wo immer sie war, dauerte es nicht lange, bis sie von Menschen umringt war, die ihre Lehren hören und die “bengalische Mutter” selbst erleben wollten. Je mehr sie an Bekanntheit gewann, umso öfter wurde sie wie eine Königin empfangen.

Die Wirklichkeit liegt jenseits von Sprache und Gedanken. Es wird nur das gesagt, was in Worten ausgedrückt werden kann. Aber was nicht in Sprache ausgedrückt werden kann, ist in der Tat das, was IST.

  • Anandamayi Ma

Im Laufe der Zeit wurde sie immer häufiger von Menschen in einflussreichen und leitenden Positionen besucht. Sie nahm sich gerne Zeit für die Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik und beeindruckte sie mit ihrer Art und ihren Lehren.

Ihre Philosophie

Mehr als 50 Jahre lang bereiste sie verschiedene Orte auf dem indischen Subkontinent. Ihre wachsende Anhängerschaft errichtete Ashrams nicht nur in Indien, sondern auch auf Hawaii und in Europa.

Ob du nun Christus, Krishna, Kali oder Allah verehrst, in Wirklichkeit verehrst du das eine Licht, das auch in dir ist, denn es durchdringt alle Dinge.

  • Anandamayi Ma

Eine ihrer zentralen Thesen war die Selbstverwirklichung im Leben eines jeden Menschen. Darüber hinaus setzte sie sich für die Einheit aller Religionen ein. Sie traf sich mit Vertretern verschiedenster Glaubensrichtungen: Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum, Islam, Tantra usw. Mit allen suchte sie das Gespräch, alle waren ihr willkommen.

Ein wichtiges Anliegen war ihr die spirituelle Gleichberechtigung der Frauen. Sie führte daher an Frauen, die sie für geeignet hielt, Rituale durch, die eigentlich Männern vorbehalten waren.

Frauen im Hinduismus

Das allgemeine hinduistische Frauenideal ist das einer guten Ehefrau, die ihrem Mann dient und Söhne zur Welt bringt. Die Ehe ist eine Art religiöse Weihe für die Frau. Dem Ehemann zu dienen wird zu dem, was für andere Gottesdienst ist.

Anandamayi Ma entsprach in gewisser Weise diesem Bild. Zuerst heiratete sie arrangiert. Aber dann gab sie sich nicht ihrem Mann hin, sondern ihrer religiösen Praxis. Ihr Mann hat sie dabei zeitlebens unterstützt. Sie war ihm also nicht untergeordnet.

Doch wie so oft scheinen Ausnahmen die Regel zu bestätigen. Auch auf dem indischen Subkontinent herrschen nach wie vor starre patriarchale Strukturen. Berühmte und weithin verehrte Frauen wie Anandamayi Ma, die sich nicht aufopferungsvoll im Hintergrund um ihren Mann kümmern, sind nach wie vor keine Selbstverständlichkeit.

Literaturhinweise:

  • Aymard, Orianne. 2014. When a Goddess Dies: Worshipping Mā Ānandamayī After Her Death. Oxford University Press.
  • Bhaiji, (Jyotish Candra Ray). 1986. Anandamayi Ma: wie sie sich mir offenbarte. Mangalam-Verlag Schang.
  • Lipski, Alexander. 1977. Life and Teaching of Śrī Ānandamayī Mā. Motilal Banarsidass.
  • Mukunda Rao. 2022. India’s Greatest Minds: Spiritual Masters, Philosophers, Reformers. Hachette India.
  • Suthren Hirst, Jacqueline. 2016. Negotiating Secularity: Indira Gandhi, Ānandamayī Mā, and the Eliya Rajah of Travancore, International Journal of Hindu Studies 20, S. 159-198.