Klischees

Tagebuch einer Verlorenen

Tagebuch einer Verlorenen

Deutschland, Anfang des 20. Jahrhunderts: Prostituierte gelten als Lasterwesen, als gefallene Frauen. Margarete Böhme (1867-1939) beobachtet das Schicksal der Frauen am Rande der Gesellschaft und den gesellschaftlichen Wandel um 1900 mit seinen gerne verdrängten Schattenseiten. Als 1905 ihr Roman Tagebuch einer Verlorenen erscheint, setzen sich die Leser mit diesen Themen auseinander.

Der Roman greift unangenehme Themen wie Pädophilie, Vergewaltigung und sexuellen Missbrauch auf, und setzt sie in Beziehung zur damaligen Erziehung. Margarete Böhme schrieb ihren Erfolgsroman in Tagebuchform, weshalb der Leser unmittelbar an den Gefühlen und Erlebnissen der Protagonistin Thymian teilhat:

Thymian stammt aus bürgerlichen Verhältnissen. Nachdem sie als Minderjährige von einem Kollegen ihres Vaters vergewaltigt und schwanger wurde, verstößt sie ihre Familie und sie landet in ihrer ausweglosen Situation in der Prostitution.

Sittenpolizei und Hitler

Ihr Roman schockierte. Deshalb kam Margarete Böhme mit der Sittenpolizei in Kontakt, die ihren Roman zensieren wollte. Doch Margarete Böhme ging juristisch dagegen vor und bekam Recht.

Wie klein sind doch die Menschen. Wie eng sind ihre Seelenkammern und wie beschränkt ihre Ansichten! Sie rennen immer mit den Köpfen gegen das hölzerne Plankwerk ihrer gesellschaftlichen Rücksichten und ihrer eigenen stocksteifen Vorurteile, mit denen sie sich selber umgeben haben; und anstatt frisch und couragiert die Planke zu überspringen und sich keck das Glück jenseits der Grenze zu holen, drücken sie sich scheu an der Mauer entlang und schielen seufzend durch die Breschen nach dem »Unerreichbaren«, »Unmöglichen« …

Es folgte ein regelrechter Boom um das Werk, das mehrfach verfilmt wurde. Doch der Erfolg endete, als Hitler an die Macht kam und ihre Werke verbieten ließ. So wurde es still um die einstige deutsche Erfolgsautorin.

Die Schriftstellerin Margarete Böhme

Margarete Böhme wurde 1867 im nordfriesischen Husum geboren, wo sie auch die Höhere Töchterschule besuchte. Ihre erste Erzählung wurde in einer Hamburger Zeitung abgedruckt, als Margarete Böhme, geborene Wilhelmine Margarete Susanna Feddersen, gerade mal 17 Jahre alt war. Es folgten zahlreiche Beiträge für diverse deutsche und österreichische Zeitungen.

1894 heiratete sie Friedrich Böhme, aus der Ehe ging eine Tochter hervor. Nach sechs Jahren wurde die Ehe wieder geschieden. Das Sorgerecht konnte sie behalten, musste dafür aber auf Unterhaltsansprüche verzichten.

Um sich und ihre Tochter durchzubringen, schrieb Margarete Böhme unermüdlich. Mit dem Erfolg ihres Romans Tagebuch einer Verlorenen war sie ihre Geldsorgen los.

1911 heiratete sie ein weiteres Mal, bestand diesmal aber auf einen Ehevertrag, der ihr zusicherte, selbst über ihre Tantiemen bestimmen zu können.

Menschlicher Blick auf unmenschliche Verhältnisse

Sie hatte eine Vorliebe für Frauen am Rande der Gesellschaft. So beschrieb sie in weiteren Werken beispielsweise die Arbeitsbedingungen von Verkäuferinnen in Warenhäusern oder von Telefonistinnen oder auch über Kindsmord.

Es sind vor allem diese Frauengestalten, an denen Margarete Böhme den Wandel der Gesellschaft und deren Kehrseite aufzeigt. Sie liefert damit aufschlussreiche Beiträge zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte, die aufs Engste mit den sozioökonomischen Veränderungen jener Zeit zusammenhängt. Stets geht es um einen menschlichen Blick auf mitunter unmenschliche Verhältnisse, um Anteilnahme am Schicksal gerade derjenigen, die abgeschoben und an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Neben zahlreichen Zeitungsartikeln verfasste Margarete Böhme, die auch unter dem Pseudonym Ormános Sandor publizierte, über vierzig Bücher. Heute ist sie vor allem in den USA bekannt, wo die Verfilmung Diary of a Lost Girl (1929, Tagebuch einer Verlorenen) mit Louise Brooks in der Rolle der Thymian bis heute als Klassiker gilt.

Literaturhinweis:

  • Dehning, Sonja. 2000. Tanz der Feder. Künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann.