Pionierinnen

Ländliche Dichterin

Ländliche Dichterin

Der erste Literaturnobelpreis für einen Lateinamerikaner ging an eine Frau: Gabriela Mistral (1889-1957). Sie nahm den Preis in Schweden entgegen und sagte in ihrer Dankesrede, sie sei überzeugt, dass Alfred Nobel sich freuen würde, die südliche Hemisphäre des amerikanischen Kontinents, die so wenig bekannt ist, in den Radius des Schutzes des kulturellen Lebens einzubeziehen.

Kindheit unter Frauen

Gabriela Mistral wurde in einer Kleinstadt in Chile geboren. Als der Vater die Familie verließ, zog sie mit ihrer Mutter in das Dorf Monte Grande, wo sie mit ihrer Halbschwester und deren Tochter aufwuchs. Auf dieses Dorf nahm sie in ihren Werken immer wieder Bezug, bezeichnete sich selbst als “ländliche Dichterin”.

Ihre Halbschwester war Lehrerin und brachte Gabriela, die eigentlich als Lucila de María del Perpetuo Socorro Godoy Alcayaga geboren wurde, das Schreiben und Lesen bei.

Die Macht der Bildung

Mit 15 Jahren wurde sie als Hilfslehrerin angestellt. Sie verfasste erste Zeitungsartikel, in denen sie bessere Bildungschancen für Frauen einforderte und die traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau in Frage stellte.

Obwohl sie nie ein Lehramtsstudium absolvierte, erhielt sie aufgrund ihres Wissens und Könnens eine Lehrbefähigung an höheren Schulen. Sie arbeitete an verschiedenen Schulen, wurde Schulleiterin, engagierte sich in der Erwachsenenbildung und gründete Bibliotheken.

Chiles erste Konsulin

Gabriela Mistral wurde 1932 die erste Konsulin Chiles. Sie wurde nach Italien entsandt, doch als sie ihren Dienst in Neapel antreten wollte, erlebte sie eine Überraschung. Im Italien Mussolinis gab es keinen Platz für einen weiblichen Konsul.

So wurde sie nach Spanien und später nach Portugal versetzt, wo sie Bürgerkriegsflüchtlingen half und weiterhin Gedichte schrieb. Die Einkünfte aus ihrer schriftstellerischen Tätigkeit vermachte sie den vom spanischen Bürgerkrieg betroffenen Kindern.

Was die Seele für den Körper bedeutet, tut der Künstler für das Volk.

  • Gabriela Mistral.

Als sie später nach Brasilien kam, freundete sie sich mit Lotte und Stefan Zweig an, die in der Nachbarschaft wohnten und vor den Nazis aus Deutschland nach Brasilien geflohen waren. Im folgenden Jahr nahm sich das Ehepaar das Leben. Gabriela Mistral schrieb darüber.

Nur ein Jahr später nahm sich auch ihr Neffe und Adoptivsohn Juan Miguel das Leben. Das stürzte sie in eine tiefe Krise. Später stellte sich heraus, dass es gar nicht ihr Neffe war, sondern ihr leiblicher Sohn, den sie heimlich in Europa zur Welt gebracht hatte, um im streng katholischen Chile keinen Skandal um ihre Person auszulösen.

Nach der Verleihung des Literaturnobelpreises ging sie nach Los Angeles, wo sie unter anderem Thomas Mann kennenlernte. In den letzten Jahren arbeitete sie als Delegierte für die UN-Kommission, für das Kinderhilfswerk UNICEF und war Delegierte der UNESCO. Daneben schrieb sie weiterhin Gedichte, in denen sie sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Selbstmord des Ehepaars Zweig und ihres Sohnes auseinandersetzte.

Letzte Wünsche

Nach ihrem Tod wurde sie in ihrem Dorf Monte Grande beerdigt. Auf ihren Wunsch hin wurde dort auch ein Berg nach ihr benannt. Auch verfügte sie, dass die Einnahmen aus den Autorenrechten den Kindern von Monte Grande zugute kommen sollten, doch der Diktator Pinochet (1915-2006) entzog ihr später diese Rechte.

Die Schiffe, deren Segel weiß schimmern im Hafen,
kommen aus Ländern, wo die Meinen nicht wohnen;
ihre helläugigen Menschen kennen nicht meine Flüsse,
ihren bleichen Früchten fehlt das Licht meiner Gärten.
  • Gabriela Mistral, aus: Gabriela Mistral. Motive ihrer Lyrik, 1955, S. 117, von Hans Rheinfelder.

Literaturhinweise:

  • Karnofsky, Eva und Barbara Potthast. 2012. Mächtig, mutig und genial. Vierzig Außergewöhnliche Frauen aus Lateinamerika. Berlin: Rotbuch Verlag.
  • Mistral, Gabriela. 2009. Madwomen. The “Locas Mujeres” Poems of Gabriela Mistral, a Bilingual Edition. University of Chicago Press.
  • Taylor, Martin C. 2012. Gabriela Mistral’s Struggle with God and Man. A Biographical and Critical Study of the Chilean Poet. McFarland Publ.