Klischees

Tränenhaus

Tränenhaus

Gabriele Reuter (1859-1941) - Zu Lebzeiten eine viel gelesene Autorin, die sich nicht scheute, die Gesellschaft kritisch zu betrachten, vor allem was die Erwartungen und Rollenzuschreibungen an Frauen betraf. Trotz ihres Erfolges erlitt sie das Schicksal so vieler Frauen: Nach ihrem Tod wurde es still um sie, und heute ist sie aus dem literarischen Gedächtnis nahezu verschwunden. Zeit, sich mit ihr und ihrem Werk näher zu beschäftigen!

Gebranntmarkte Mädchen & freie Mutterschaft

Gabriele Reuter brach mit den Konventionen: Sie brachte eine ledige Tochter zur Welt, gab sie nicht wie üblich weg, sondern zog sie allein groß. Von großem Vorteil war dabei, dass sie finanziell unabhängig war und mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit den Lebensunterhalt für sich, ihre Tochter und ihre pflegebedürftige Mutter verdiente.

Wir glauben alle, unser ganz persönliches Leben nach unserm Wollen zu führen, und dabei leben wir doch zugleich mit dem persönlichen noch ein typisches Leben der Zeit, das wir aber nur in seltenen Augenblicken durch die Hülle des persönlichen hindurch erkennen. Das wird nicht von dem individuellen Willen bestimmt, sondern durch Bedingungen, über die wir gar keine Gewalt haben. Darum tun wir wohl so oft Dinge, von denen wir fühlen, wir tun sie aus einem Zwang, der gegen unsere individuelle Natur ist. Das Schicksal hat manche unter uns ausersehen zu Symbolen der Zeit. Wir tragen ihr Brandmal, oder ihre Flammenzunge an der Stirne – wissen nicht, ob das feurige Zeichen Schande oder Ehre bedeutet … Wer einmal so gezeichnet wurde, der muß sein Los auf sich nehmen und seine letzten Bitterkeiten austrinken. Er wird ahnen, daß nur auf diesem Wege sein Leben reif werden kann, zu einer Frucht am Erntekranz der Zeit.

In ihrem Roman Das Tränenhaus verarbeitete sie die Geburt ihrer ledigen Tochter Lili in einem Gebärhaus für ledige Mütter: Verführte oder missbrauchte Mädchen werden in eine ärmliche Unterkunft gebracht, wo ihre Kinder nach der Geburt an Pflegemütter abgegeben werden. Offen über ein so großes Tabu wie die Schwangerschaft unverheirateter Frauen zu schreiben, Hintergründe aufzudecken, Missbrauch zu thematisieren - der Skandal, den dieses Buch auslöste, war vorprogrammiert. Gerade von Frauen wurde in der Geschichte immer wieder Stillschweigen erwartet. Doch was nützt es, Missstände zu verschweigen, den schönen Schein zu wahren?

Die Toni aber hatte von ihren Eltern die Erlaubnis erhalten, Weihnachten heim zu kommen, dann wolle man ihr verzeihen. Cornelie spürte, wieviel tiefer das junge Geschöpf noch im Boden des Elternhauses wurzelte als in der neuen Mutterschaft, die ihr kaum andere als unheimliche Gefühle erwecken konnte.

Ausgegrenzte Frauen, das Wegschauen der Gesellschaft, ärmliche Lebensverhältnisse - Gabriele Reuter verstand es, diese Themen gekonnt aufzugreifen. Jedenfalls wurde Das Tränenhaus ein literarischer Erfolg.

Aus guter Familie & dem Untergang geweiht

Es war nicht ihr erster Erfolg als Schriftstellerin. Mit ihrem Roman Aus guter Familie (1895) bescherte sie dem S. Fischer Verlag einen ersten Bestseller. Die Hauptfigur Agathe war noch bekannter als Effi Briest aus dem gleichnamigen Roman von Theodor Fontane, der zur gleichen Zeit erschien.

Gabriele Reuter schildert in Aus guter Familie, wie gesellschaftlich verankerte Geschlechterideale und -normen Frauen nicht Lebens-, sondern Leidenswege weisen. So auch die Romanfigur Agathe Heidling, die an der ihr aufgezwungenen Frauenrolle allmählich zugrunde geht.

Persönliche Lebens- und Leidenswege

Gabriele Reuter entstammte selbst einer wohlhabenden Familie. Sie wurde 1859 als Gabriele Elise Karoline Alexandrine Reuter in Alexandira (Ägypten) als ältestes von sechs Kindern von Johanna Behmer und Carl Reuters, der als Sekretär am preußischen Konsulat in Ägypten arbeitete, geboren.

Später zog die Familie nach Kairo, bevor sie nach Deutschland zurückkehrte. Als der Vater 1872 starb, wendete sich das Blatt. Nach nur einem Jahr war das verbliebene Geld aufgebraucht und Gabriele Reuter musste sich nun um die jüngeren Geschwister und die depressive Mutter kümmern.

Sie begann erste Texte für die Lokalpresse zu schreiben und konnte so ihre Familie ernähren. Es folgten Stationen in Weimar, Berlin, Wien und München, wo sie sowohl mit der Frauenbewegung als auch mit der Bohème in Berührung kam. Nach dem Tod ihrer Mutter lebte sie einige Zeit im Tessin, bevor sie ihren Lebensabend in Weimar verbrachte. Dort schrieb sie bis ins hohe Alter, auch als sie zunehmend erblindete. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Tochter Lili.

Literaturhinweise:

  • Höfner, Mirjam. Gabriele Reuter. Archiv der deutschen Frauenbewegung. Kassel.
  • Kaloyanova-Slavova, Ludmila. 1998. Übergangsgeschöpfe. Gabriele Reuter, Hedwig Dohm, Helene Böhlau und Franziska von Reventlow, New York: Lang.
  • Praske, Tanja. 2022. Gabriele Reuter (1859-1941) – „Etwas Werdendes“. Eine biografische Skizze zur Literatin | #FrauenDerBoheme. München.
  • Roth, Denise. 2012. Das literarische Werk erklärt sich selbst. Theodor Fontanes Effi Briest und Gabriele Reuters Aus guter Familie poetologisch entschlüsselt. Berlin.

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