Pionierinnen

Briefe aus Norwegen

Briefe aus Norwegen

Das Jahr 1914 war in vielerlei Hinsicht ein einschneidendes Jahr für Europa: Das Attentat von Sarajevo wurde zur Initialzündung für den Ersten Weltkrieg. Der Erste Weltkrieg wiederum war der Beginn von Zerstörung, Gewalt, Umwälzungen und schließlich der Nährboden für Faschismus und Kommunismus, für Konkurrenz und Spannungen zwischen Ost und West.

Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges ging eine junge Frau auf Reisen. Sie bereiste Europa und hielt vor allem ihre Erlebnisse in Norwegen literarisch fest: die serbische Schriftstellerin Isidora Sekulić (1877-1958). Ihr Werk Briefe aus Norwegen, das 1914 zum ersten Mal erschien, ist eine beispiellose Dokumentation eines Landes am Vorabend großer Umwälzungen.

Vorgetäuschte Hochzeitsreise?

Anfang 1914 erschien in Belgrad eine Zeitungsanzeige. Der polnische Arzt Emil Stremnicki sei auf seiner Hochzeitsreise verstorben. Die junge Witwe Isidora Sekulić trauere. Im selben Jahr erscheint ihr Reisebericht über Norwegen. Darin findet sich jedoch kein Wort über ihren kürzlich verstorbenen Mann.

Es wird vermutet, dass sie die Hochzeitsreise vortäuschte, um als Frau den Norden Europas zu bereisen. Im Reisebericht gibt sie nämlich an, mit zwei Frauen unterwegs gewesen zu sein. Die Hochzeitsreise also nur als Alibi, um sich als serbische Intellektuelle, als Frau, frei bewegen zu können?

Literatin mit Tiefgang

Isidora Sekulić zählt heute zu den bedeutendsten literarischen Persönlichkeiten des Balkans. Sie hat die geistige und kulturelle Landschaft ihrer Zeit entscheidend mitgeprägt. In ihren Werken verbinden sich intellektuelles Verständnis mit feiner Beobachtungsgabe und philosophischer Tiefe.

Sie studierte zunächst Naturwissenschaften und Mathematik in Budapest und Wien. Später wandte sie sich der Pädagogik zu und unterrichtete an Gymnasien. Als erste Frau im damaligen Jugoslawien promovierte sie zum Doktor der Philosophie.

Suche nach Identität

Sie sprach mehrere Sprachen, was ihr auf ihren Reisen zugute kam. Die Reisen öffneten ihren Horizont: Nicht nur ihr Denken, sondern auch ihr Schreiben wurde durch internationale Begegnungen und Erfahrungen geprägt.

In ihren Werken beschäftigte sie sich immer wieder mit der Suche nach Identität. Ein weiteres Thema ist die Beziehung zwischen Mensch und Natur.

Ihr besonderes Interesse galt der Rolle der Frau und den damit verbundenen patriarchalen Gesellschaftsstrukturen. Dabei geht es um die Herausforderungen, denen sich speziell Frauen aufgrund ihres Frauseins stellen müssen, sowie um die Belastungen und Einschränkungen, die Frauen durch gesellschaftliche Normen und Konventionen erfahren.

Kraftvolle Poesie

In der serbischen Literaturgeschichte spielt sie eine herausragende Rolle. In einer Zeit, in der politische Essays als Männersache galten, wurde sie mit ihren Schriften wahrgenommen und ernst genommen, was keineswegs selbstverständlich war.

Ihre Schriften sind insgesamt von großer poetischer Kraft. Mit der Übersetzung ihres Werkes Briefe aus Norwegen (2019) wurde ein Teil ihres Schaffens auch in deutscher Sprache zugänglich. In Serbien erinnert ein Literaturpreis an sie, an die Pionierin der serbischen Frauenliteratur.

Literaturhinweise:

  • Bracewell, Wendy (Hg.). 2009. Orientations: An Anthology of European Travel Writing on Europe. Central European University Press.
  • Hawkesworth, Celia. 2023. Voices in the Shadows: Women and Verbal Art in Serbia and Bosnia. Central European University Press.
  • Sekulić, Isidora. 2019. Briefe aus Norwegen: ausgewählte Texte aus den Jahren 1913 bis 1951. Übersetzt von Tatjana Petzer. Friedenauer Presse.