Philosophie

Das Maß aller Dinge

Das Maß aller Dinge

Sie war emanzipiert, intelligent und unabhängig: die Engländerin Constance Naden (1858-1889), Philosophin, Dichterin und Wissenschaftlerin.

Poesie, Malerei und Wissen

Nicht das Leben als Ehefrau und Mutter interessierte sie, sondern das gesamte Universum mit seinen intellektuellen, philosophischen, physikalischen, poetischen und sozialen Aspekten. Anstatt zu heiraten, wie es zu ihrer Zeit für Frauen üblich war, oder ihren Lebensunterhalt als Lehrerin zu verdienen, ermöglichte ihr eine Erbschaft ihrer Großeltern, die sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter aufgezogen hatten, eine Ausbildung in Kunst, Philosophie und Wissenschaft.

Schon als Kind entdeckte sie ihre dichterische Begabung und begann eigene Gedichte zu schreiben, später veröffentlichte sie Gedichtbände. Mit etwa acht Jahren entdeckte sie auch ihre Begabung für die bildende Kunst. Als sie etwa 20 Jahre alt war, wurde eines ihrer Bilder in einer Ausstellung der Birmingham Society of Artists gezeigt. Weitere Ausstellungen wurden ihr jedoch verwehrt. Daraufhin verlor sie das Interesse an der Malerei.

Ihre Philosophie

Sechs Jahre lang studierte Naden am Mason College, der heutigen University of Birmingham. Doch von Anfang an war klar, dass sie als Frau keinen Abschluss machen durfte.

Dennoch begann sie, Essays und Artikel zu veröffentlichen, in denen sie ihre Erkenntnisse einer Leserschaft zugänglich machte.

Der Mensch ist für sich selbst, im Sinne der relativen Erkenntnistheorie, das Maß aller Dinge.

  • aus: Induction and Deduction, von Constance Naden.

Naden vertrat die Auffassung, dass Ethik und Moral von religiösen Lehren völlig zu trennen seien. In dieser Position kommt ihre humanistische Grundhaltung am deutlichsten zum Ausdruck.

Naden lehnte also die Religion zugunsten einer rationalen und atheistischen Philosophie ab. Nach der Begegnung mit dem pensionierten Armeechirurgen Robert Lewins (1817-1895) nahm Nadens Theorie des Unglaubens eine klare und konkrete Form an. Gemeinsam entwickelten und verfeinerten sie das Konzept des Hylo-Idealismus. Dabei handelt es sich um eine materialistische Philosophie, die auf der subjektiven Natur aller Wahrnehmungen beruht und jede dualistische Gegenüberstellung von Materie und Geist ablehnt.

Sie war davon überzeugt, dass die Philosophie die Grundlage allen guten Handelns ist, weil gutes Handeln auf den Prinzipien der Vernunft beruht.

Abnormale Frau?

Constance Naden war eine Bewunderin und Schülerin des Philosophen Herbert Spencer (1820-1903). Herbert Spencer war Philosoph, Soziologe und Evolutionstheoretiker. Er machte das Konzept der Evolution für die soziale Entwicklung populär, ebenso wie er (und nicht Charles Darwin) den Begriff „survival of the fittest“ prägte. Damit meinte er das Überleben des am besten Angepaßten, wobei er Darwins „natürliche Auslese“ in einen „Kampf ums Dasein“ umwandelte.

Als Constance Naden im Alter von nur 31 Jahren nach einer Operation starb, schrieb Herbert Spencer einen Kondolenzbrief. Darin begründete er ihren frühen Tod damit, dass Bildung für Frauen - dem damaligen Weltbild entsprechend - schädlich sei:

Zweifellos hätte ihre subtile Intelligenz viel zur Förderung des rationalen Denkens beigetragen, und ihr Tod ist ein schwerer Verlust. Bei dieser Gelegenheit möchte ich jedoch nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass in ihrem Fall, wie auch in anderen, die bei einer Frau (wie Constance Naden) so hoch entwickelten geistigen Kräfte in gewissem Maße anormal sind und einen physiologischen Preis haben.

  • Herbert Spencer über den frühen Tod der Constance Naden

Ihr Intellekt war zu stark für ihren Körper, er war für ihren Körper nicht tragbar und verursachte, so Spencers Erklärung, tiefgreifende Verletzungen. Die Rolle der Frau war damals klar definiert und ließ wenig Spielraum für intellektuelle Entfaltung. Wenn doch einmal eine Frau intellektuell hervortrat, wurde eine Erklärung gefunden, warum dies nicht der normalen Natur einer Frau entspreche.

Literaturhinweise:

  • Rullmann, Marit und Werner Schlegel. 2018. Denken, um zu leben. Philosophinnen vorgestellt. marixverlag.
  • Smith, Philip E. & Susan Harris Smith. 1977. Constance Naden: Late Victorian Feminist Poet and Philosopher. Victorian Poetry 15.4, S. 367–70. http://www.jstor.org/stable/40002886.
  • Stainthorp, Clare. 2019. Constance Naden: Scientist, Philosopher, Poet. Peter Lang.