Klischees

Magie des Ohrschmucks

Magie des Ohrschmucks

Sind Ohrringe typisch weiblich oder typisch männlich? Je nach Epoche waren Ohrringe ein kulturelles, soziales oder politisches Statement für Frauen UND Männer.

Neulich wurde ich von meinem dreijährigen Sohn gefragt, ob er zuerst eine Frau werden müsse, damit er auch irgendwann Ohrringe tragen könne. Als ich ihm dann erzählte, dass auch viele Männer Ohrringe tragen und es auch Frauen gibt, die keine Ohrlöcher haben, war er zuerst überrascht, dann aber beruhigt.

Woher kommt dieses Bild, dass Ohrringe ein weibliches Zeichen wären? Zugegeben, in unserem persönlichen Umfeld sind es fast ausschließlich Frauen, die Ohrringe tragen. Das war aber nicht immer so. Es gab durchaus Kulturen und Epochen, in denen sich hauptsächlich Männer damit zierten, beide Geschlechter gleichermaßen Ohrschmuck trugen oder es für beide Geschlechter als verpönt galt.

Historische Männer mit Ohrlöchern

In Südtirol gibt es gleich zwei historische Männer, die weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt sind und einst Ohrschmuck trugen: Ötzi und Oswald von Wolkenstein. Männer ließen sich folglich bereits vor mehr als 5000 Jahren die Ohren piercen, wie etwa Ötzi, der Mann aus dem Eis.

Auch Oswald von Wolkenstein (c.1377–1445), bedeutender Südtiroler Dichter und Liedermacher, Diplomat und Ritter des Spätmittelalters, trug Ohrschmuck. Er reiste in die meisten der damals bekannten Länder und berichtete darüber in seinen Liedern. In einem dieser Lieder hielt er fest, wie eine Königin ihm als Ehrerbietung Ohrlöcher stach:

Die Königin von Aragonien, hübsch und anmutig; vor ihr kniete ich nieder, hielt ihr bereitwillig meinen Bart hin, und mit weißen Händchen band sie ein feines Ringlein hinein, so liebenswürdig, und sagte: „Bind es nicht mehr los!“ Von ihrer Hand wurden mir meine Ohren mit einem Messing-Nädlein durchstochen, und gemäß ihrem Brauch zog sie mir dort zwei Ringe ein, die ich lange trug; man nennt sie raicades [= Ohrringe].

  • In: Oswald von Wolkenstein: Das poetische Werk. Gesamtübersetzung in neuhochdeutsche Prosa mit Übersetzungskommentaren und Textbibliographien, 2011, S. 53, von Wernfried Hofmeister.

Aber auch in anderen Teilen Europas trugen bekannte Männer Ohrschmuck, wie Gemälde dokumentieren. Zu ihnen zählen König Heinrich III. von Frankreich (1551–1589), König Karl I. von England (1600–1649), oder der erste bayerische König, Maximilian I. Joseph (1756–1825).

Soziales Zeichen

In vielen Teilen der Welt diente der Ohrschmuck als soziales Zugehörigkeitszeichen. Im alten Indien und im antiken Ägypten symbolisierten Ohrringe die Zugehörigkeit zur Oberschicht, man konnte sich diesen Luxus leisten. In der Antike wurden Ohrringe vorwiegend von Frauen getragen. Manche Ohrringe waren aber Markenzeichen von Randgruppen, wie etwa von Sklaven oder Prostituierten.

Obwohl in der Bibel die Rede von Ohrringen ist, die von beiden Geschlechtern getragen wurden, verbot die Kirche im Mittelalter das Tragen von solchen. Ihr Argument war, dass der Mensch das Ebenbild Gottes sei und sich nicht selbst verändern dürfe. Piraten oder Diebe trugen weiterhin Ohrringe als Zeichen ihrer Zugehörigkeit und Rebellion.

Notgroschen

Für Seeleute war der Ohrring aber auch eine Wertanlage, um in der Ferne eine eventuelle Beerdigung finanzieren zu können. Auch im Handwerk gab es die Tradition, Ohrringe zu tragen. Gesellen auf der Walz trugen welche, um einen Notgroschen dabeizuhaben oder, wie bei den Seeleuten, die eigene christliche Beerdigung bezahlen zu können.

Ich stehe zu mir!

Im Laufe des 20. Jahrhunderts bekamen Ohrringe noch eine andere Bedeutung: Sie wurden Symbol für Selbstbewusstsein. Afroamerikaner kämpften für Gleichberechtigung und Ohrringe, hauptsächlich große Creolen, wurden zum Symbol von Widerstand und Stärke, von Weiblichkeit und Tradition. Immerhin wurde damit an die afrikanische Tradition des Ohrschmucks und somit an die eigenen Wurzeln erinnnert. Auch lateinamerikanische Frauen sehen in großen Creolen ein sichtbares Zeichen ihrer eigenen Kultur, auf die sie stolz sein können.

Abgesehen davon trugen Männer ab den 1960er Jahren Ohrringe, um sich als Hippie zu kennzeichnen, und etwa ab den 1980ern, um ihrer homosexuellen Orientierung Ausdruck zu verleihen. Mittlerweile hat das jedoch an Bedeutung verloren und Männer wie Frauen tragen Ohrringe häufig ohne politischen, sozialen oder kulturellen Hintergrund, sondern schlicht und einfach, weil es gefällt.