Pionierinnen

Erste Studentin Europas

Erste Studentin Europas

Anna Maria van Schurman (1607-1678), Universalgelehrte, Künstlerin und Religionsphilosophin, setzte sich aus religiösen Gründen für ein Frauenstudium ein.

Wer war diese Frau, die von den einen als Wunder des Jahrhunderts bejubelt und von anderen als Kuriosität und unfruchtbares Wesen bezeichnet wurde? Jedenfalls war sie eine Frau, die ihren eigenen Weg ging, sich in Männerwelten durchsetzte und sich bewusst gegen eine eigene Familie entschied. Ein gelehrter Mann wäre deshalb wohl nicht als unfruchtbar beschimpft worden…

Ihren Erfolg verdankte Maria Anna van Schurman, auch von Schürmann, ihrem Talent und Ehrgeiz, aber auch der Möglichkeit, als Frau überhaupt eine umfangreiche Bildung zu erwerben und finanziell unabhängig zu bleiben. Die meisten Frauen ihrer Zeit kamen nicht in Genuss dieser Privilegien.

Männliche Herrschaftssprache

Ihr Vater erkannte bereits früh ihr Talent und ließ seiner Tochter eine für Mädchen untypisch umfangreiche Bildung zuteil werden. Selbst adlige Frauen lernten damals meist nur Französisch oder Italienisch, da es sich um die Sprachen der großen Höfe handelte.

Nicht aber Anna Maria, die von ihrem Vater auch in der männlichen Herrschaftssprache, Latein, unterrichtet wurde. Als Erwachsene beherrschte Anna Maria schließlich an die zehn Sprachen: Deutsch, Niederländisch, Französisch, Italienisch, Englisch, Latein, Griechisch, Hebräisch und Aramäisch. Zudem war sie die erste, die eine Grammatik der äthiopischen Sprache verfasste.

Religiöse Motivation

Wie sie später einmal festhielt, lernte sie diese Sprachen, um die Bibel besser lesen und verstehen zu können. Anna Maria wurde 1607 in Köln in eine protestantische Familie geboren. Zu jener Zeit waren die evangelischen Gemeinden verboten, weshalb ihre Familie 1610 aus Köln fliehen musste.

Ihr wichtigster Lehrer wurde ihr Vater, der sie an befreundete Professoren vermittelte. So wurde aus dem wissbegierigen Mädchen eine Universalgelehrte: Sie war Malerin, Philosophin, Theologin, Linguistin, Musikerin, Dichterin, Astronomin, Historikerin und noch vieles mehr. Ihrem Vater schien diese ungewöhnliche Stellung seiner Tochter zu gefallen. Anna Maria van Schurman versprach ihm an seinem Totenbett, unverheiratet und keusch zu bleiben und sich weiterhin ihren Studien zu widmen.

Ihre Gelehrtheit hätte für Frauen der damaligen Zeit auch ganz anders, etwa mit dem Scheiterhaufen, enden können. Schließlich hielt sie sich nicht an die vorgegebenen Frauenrollen: Sie bekleidete nicht die üblichen Rollen als Ehefrau und Mutter. Zusätzlich beschäftigte sie sich auch noch mit wissenschaftlichen Fragen.

Bildung als Türöffner

Ihre Gelehrtheit und ihre Kenntnisse in Latein machten sie berühmt. Ab 1623 lebte sie in Utrecht in den Niederlanden. Als dort 1636 die Utrechter Universität eröffnet wurde, durfte sie sogar das Festgedicht verfassen, da sie weit und breit als beste Lateinerin galt. Nur offiziell an der Universität studieren, das wurde ihr zuerst verwehrt.

Doch sie machte sich für ein Frauenstudium stark. Nicht aber aus emanzipatorischen oder feministischen Gründen, sondern aus tief religiöser Überzeugung. Für Frauen wäre das Studium eine Möglichkeit, sich sinnvoll zu beschäftigen, die Bibel besser zu verstehen und insgesamt die eigene christliche Bildung und Tugendhaftigkeit zu stärken und auszubauen.

Erste Studentin Europas

Ihre Bemühungen und ihre Korrespondenz mit angesehen Persönlichkeiten in Latein führten schließlich dazu, dass sie als Gasthörerin und erste Studentin Europas an der Utrechter Universität zugelassen wurde. Allerdings musste sie sich während den Vorlesungen in einen vergitterten Kasten begeben, damit sie durch ihre Anwesenheit nicht die übrigen Studenten ablenken würde.

So wurde sie allmählich in ganz Europa für ihre Gelehrtheit bekannt, wurde “Stern von Utrecht” genannt. Sie betrieb einen regen Briefwechsel mit vielen bekannten Persönlichkeiten, unter anderem mit dem Philosophen René Descartes. Aber nicht nur in der Wissenschaft machte sie sich einen Namen. Sie war es, die das erste Aquarell der niederländischen Malerei, ein Selbstportrait, anfertigte.

Doch das Leben in dieser exponierten Stellung, als Gebildete, als intellektuelle Instanz, gar als vielgerühmtes „Wunder von Utrecht“, ließ van Schurman letztlich unerfüllt, war kein Richtungspunkt, dessen Erreichen sie befriedigte […].

  • In: Wenn sie ein Mann wäre. Leben und Werk der Anna Maria van Schurman 1607–1678, 2009, S. 9, von Michael Spang.

Trotz ihres Erfolges kehrte sie der Wissenschaft und allen weltlichen Künsten freiwillig den Rücken zu, beschäftigte sich fortan mit religionsphilosophischen Fragen und führte ein gottgefälliges Leben - laut ihrer Ansicht die höchste Erfüllung.

Umstrittener religiöser Wandel

Sie schloss sich dem umstrittenen Mystiker Jean de Labadie an und lebte in seiner religiösen Kommune. So wurde aus der Pionierin und Universalgelehrten allmählich eine weltabgewandte Anhängerin einer Sekte.

Nicht zuletzt wegen ihrer religiösen Entwicklung hat die Literaturgeschichte Anna Maria van Schurman, die nach längerer Krankheit am 4. Mai 1678 starb, fast vergessen. Die Philosophie hatte sie ohnehin nie ernsthaft zur Kenntnis genommen. Die protestantische Theologiegeschichtsschreibung wiederum verübelt ihr den „sektierersichen Abfall“ bis heute.

  • Denken um zu leben. Philosophinnen vorgestellt von Marit Rullmann und Werner Schlegel, 2018, S. 24.

Dennoch schaffte sie in ihrem Leben, was lange Zeit für Frauen alles andere als selbstverständlich war: die Aufnahme als erste Studentin Europas, die Korrespondenz mit angesehenen Denkern und Persönlichkeiten der damaligen Zeit, das Studium vieler Fachbereiche und Sprachen, was sie zur Universalgelehrten in weiten Teilen Europas bekannt machte – und das im Europa des 17. Jahrhunderts.