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Rollenklischees und ein Wikingergrab

Rollenklischees und ein Wikingergrab

Manchmal gerät die männliche Geschichtsschreibung und damit einhergehende Rollenmuster gehörig ins Wanken. Und das ist gut so.

Was uns als Menschheitsgeschichte präsentiert wird, ist meistens nichts weiter als Männergeschichte, die Frauen durch die Epochen hindurch ausklammert. Geschichtliche Ereignisse wurden rückblickend durch die Linsen von Männern begutachtet und niedergeschrieben. Sie entschieden, ob und wie Männer und Frauen, aber auch verschiedene Religionen oder Ethnien, kategorisiert und dargestellt wurden. Bis heute hat das tiefgreifende Auswirkungen auf unser Verständnis von Geschichte und Geschlechterrollen.

Kriegergrab einer Frau

Ein Beispiel ist das Wikingergrab Bj581, das im Jahre 1878 im schwedischen Birka ausgegraben wurde. Grabbeigaben wie Pferde, Waffen und andere Ausrüstungsstücke ließen auf nichts anderes schließen, als dass es sich um einen bedeutenden Krieger handeln musste. Über Jahre galt dieses Grab als Paradebeispiel für ein Kriegergrab eines hochgeschätzten Mannes. Diese Theorie fiel in sich zusammen, als im Jahre 2017 DNA-Analysen belegten, dass es sich eindeutig um die Überreste einer Frau handelt.

Irritation und Spekulation

Seither versuchen verschiedene Theorien, eine Antwort darauf zu liefern, wie das Grab nun zu deuten wäre. Handelt es sich vielleicht um einen Trans-Mann (also um eine Person, die bei der Geburt dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde, sich aber als Mann fühlt), um eine Kriegerin, oder vielleicht um eine hochrangige Frau? Im letzteren Fall könnten die Grabbeigaben rein symbolisch für ihre Macht stehen.

Was vorher als eindeutig männlich eingestuft wurde, schafft nun Raum für Irritation und Spekulationen. So leicht gerät ein bestehendes Weltbild ins Wanken, in dem Frauen automatisch eine passive Rolle zugeschrieben wird.

Viktorianisches Ideal

Häufig wird ein verzerrtes Bild der Geschichte konstruiert, wobei bestehende Ideale angewandt werden, um historische Ereignissen oder Personen zu erklären. So entsteht ein Bild, das nicht immer Realitäten repräsentiert. Das passiert meist unwillentlich und wurde –wie im Fall des Wikingergrabes– erst durch eine DNA-Analyse aufgedeckt.

Laut der archäologischen Genderforscherin Marianne Moen wird in der Wikingerforschung meist das viktorianische Ideal angewandt, um Funde zu deuten. Die Rollenverteilung ist dabei klar definiert: der Mann steht aktiv in der Öffentlichkeit, während die Frau sich fürsorglich und beinah unsichtbar um den Haushalt kümmert.

Die Archäologen des 19. Jahrhunderts wendeten dieses viktorianische Ideal an. Sie übernahmen ihre eigenen, vorherrschenden Geschlechterrollen, um Dynamiken einer längst vergangenen Zeit zu beschreiben. Dieses Verständnis wurde als wahr akzeptiert und bis heute reproduziert. Wie gut, dass moderne Forschungsmethoden neues Licht in verstaubte Selbstverständlichkeiten bringen.

Perspektivwechsel

Das Wikingergrab von Birka ist ein gutes Beispiel dafür, wie angewandte Theorien und gelebte Weltbilder nicht ausreichen, um historische Begebenheiten zu deuten. Wie viele Bereiche mag es wohl noch geben, die bislang ganz selbstverständlich nach einer Weltvorstellung gedeutet wurden, die mit der untersuchten Epoche aber nicht übereinstimmen?

Manchmal lohnt sich ein Perspektivwechsel. Nur weil etwas als unwahrscheinlich oder gar undenkbar erscheint, bedeutet das nicht, dass es nicht doch der Wirklichkeit entspricht.

Literaturhinweise:

  • Heinken, Siebo. 2022. „Gudríds Reise nach Amerika," GEO, Schweizer Ausgabe, S. 30–52.
  • Moen, Marianne. 2019. Challenging Gender. A reconsideration of gender in the Viking Age using the mortuary landscape. PhD Thesis, University of Oslo.
  • Price, Neil, Charlotte Hedenstierna-Jonson, Torun Zachrisson, Anna Kjellström, Jan Storå, Maja Krzewińska, Torsten Günther, Verónica Sobrado, Mattias Jakobsson und Anders Götherström. 2019. „Viking warrior women? Reassessing Birka chamber grave Bj. 581,“ Antiquity 93 (367), S. 181–198, https://doi.org/10.15184/aqy.2018.258.