Pionierinnen

Seele des Silbernen Zeitalters

Seele des Silbernen Zeitalters

Sie gilt als Seele des Silbernen Zeitalters, wie die eigene literarische Epoche Russlands in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts genannt wird: Anna Achmatowa (1889-1966).

Die Poetin erwacht

Anna Achmatowa wurde in der Nähe der Schwarzmeerhafenstadt Odessa in der heutigen Ukraine geboren. Ihr Vater war Schiffbauingenieur. Beide Elternteile entstammten dem russischen Adel.

Später zog die Familie in die Nähe von St. Petersburg. Dort begann Anna Achmatowa im Alter von 11 Jahren Gedichte zu schreiben. Ihr Vater stand ihren literarischen Experimenten ablehnend gegenüber und verbot ihr kategorisch, für ihre Werke ihren richtigen Familiennamen zu verwenden. So wählte Anna den Nachnamen ihrer Großmutter mütterlicherseits, Achmatowa, der für sie kraftvoll und majestätisch klang.

Tragische Erlebnisse

Ihre ersten Werke waren ein großer Erfolg: Abend (1912) und Rosenkranz (1914). Doch die Zeiten änderten sich: Ab 1922 wurde sie stigmatisiert. Ihre Gedichte wurden als jugendgefährdend eingestuft. Deshalb durfte sie nicht mehr publizieren.

Ich kannte viele früh gewelkte Frauen
Von Schrecken, Furcht, Entsetzen ausgeglüht.
Des Leidens Keilschrift sah ich eingehauen
Auf Stirn und Wangen, die noch kaum geblüht.

Schmerzlich dazu kam der Kummer und die Trauer um geliebte Menschen. Der Dichter Nikolaj Gumiljow, ihr erster Ehemann, wurde 1921 als angeblicher Konterrevolutionär hingerichtet. Lew Gumiljow, ihr einziger Sohn, wurde mehrfach verhaftet und musste zwölf Jahre in Straflagern und Gefängnissen verbringen.

Literatur als Erinnerung

Über fünf Jahrzehnte schrieb sie über das, was sie bewegte. Dabei hielt sie viele Umbrüche ihrer Zeit fest: den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die junge Sowjetrepublik, die stalinistischen Repressionen der 1930er Jahre, den Zweiten Weltkrieg sowie die wiederkehrenden Repressionen ab 1945 und schließlich Stalins Tod 1953.

Mit ihren Werken schuf sie bleibende Erinnerungen an die Veränderungen ihrer Zeit. Die Vergangenheit sollte am Leben bleiben und nicht dem Vergessen zum Opfer fallen.

Erinnern, nicht vergessen

Anna Achmatowa war eine herausragende und wirkungsvolle Lyrikerin, Literaturkritikerin und Übersetzerin. Sie wurde 1965 und 1966 für den Nobelpreis nominiert, nachdem sie lange Zeit offiziell in Ungnade stand.

Ihr habt durch Wildnis mich geleitet
Wie Sterne, fallend in die Nacht,
Wart Lüge, habt mir Schmerz bereitet −
Zum Trösten fehlte euch die Macht.

Sie nahm für sich in Anspruch, den Frauen das literarische Sprechen beigebracht zu haben. Erst dadurch, so Achmatowa, sei ihnen der Weg in die Weltliteratur geebnet worden.

Literaturhinweise:

  • Achmatowa, Anna. 2012. Unsrer Nichtbegegnung denkend: Gedichte 1911 bis 1964. Übersetzt von Erich Ahrndt. Leipziger Literaturverlag.
  • Auffermann, Verena, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März & Elke Schmitter. 2021. 100 Autorinnen in Porträts: von Atwood bis Sappho, von Adichie bis Zeh. Piper.
  • Čukovskaja, Lidija. 1987. Aufzeichnungen über Anna Achmatowa. Narr.
  • Kuzʹmina, Elena. 1993. Anna Achmatowa: ein Leben im Unbehausten. Rowohlt.
  • Mierau, Fritz. 2018. Keller der Erinnerung: Sprache in Zeiten gelebter Utopie. epubli.
  • Puchner, Martin. 2019. Die Macht der Schrift: Wie Literatur die Geschichte der Menschheit formte. Blessing.
  • Sichtermann, Barbara. 2023. Schreiben gegen alle Widerstände: Aus dem Leben wagemutiger Schriftstellerinnen. marix Verlag ein Imprint von Verlagshaus Römerweg.