Geschichtsschreibung

Anastasia

Anastasia

Berlin, Februar 1920: Aus dem Kanal wird eine junge Frau gezogen. Was war passiert? Hat sie versucht, sich das Leben zu nehmen? Wer war sie überhaupt? Schweigen. Sie spricht kein Wort. Dann wird sie in eine Irrenanstalt gebracht.

Als man ihr nach Monaten ein Bild der Zarenfamilie zeigt, redet sie zum ersten Mal. Sie sei Anastasia, russische Großfürstin und Tochter des letzten Zaren.

Großfürstin oder Lügnerin?

Konnte das sein? Zu diesem Zeitpunkt wusste kaum jemand, was mit der Zarenfamilie geschehen war. War sie und ihre Familie tot oder hielten sie sich an einem geheimen Ort versteckt? Es gab zahlreiche Theorien über das Schicksal des letzten Zaren, seiner Frau und ihren fünf Kindern.

Von nun an kamen verschiedene Verwandte, die prüfen wollten, ob es sich wirklich um Anastasia handelte. Die einen waren sich sicher, dass sie eine Hochstaplerin war, andere erkannten in ihr eindeutig die russische Großfürstin wieder. Besonders ihr ehemaliger Spielgefährte, der Sohn des Leibarztes der Zarenfamilie, war sich sicher: „Das ist Anastasia!”

Inzwischen nannte sie sich Anna Anderson. Ihr ganzes Leben lang behauptete sie steif und fest, sie sei Anastasia. Doch die russische Führung stufte die Romanows, wie die Zarenfamilie hieß, als großes Tabuthema ein, sodass eine eindeutige Überprüfung zunächst unmöglich war.

Großes Tabuthema

Allmählich kam jedoch die Wahrheit ans Licht. Nach der Februarrevolution im Jahr 1917 wurde der Zar abgesetzt und die gesamte Familie kam unter Hausarrest. Im selben Jahr folgte die Oktoberrevolution, in deren Folge die Zarenfamilie mit ihren engsten Bediensteten nach Jekaterinburg gebracht wurde. Dort wurden sie über ein Jahr lang in einem Haus gefangen gehalten, dessen Fenster weiß gestrichen wurden, damit niemand hinaus- oder hineinschauen konnte.

An einem Morgen im Juli 1918 wurde die Familie geweckt und in einen Kellerraum gebracht. Kurze Zeit später betraten bewaffnete Männer den Raum und eröffneten das Feuer. Die Leichen wurden anschließend verscharrt.

1991 kam es zur Exhumierung der Leichen. Zunächst fehlten jedoch zwei Personen, die 2007 gefunden wurden. Somit war klar: Keiner aus der Familie hatte überlebt. DNA-Tests ergaben dies eindeutig. Anna Anderson konnte also nicht Anastasia sein. Dies ließ sich jedoch erst nach ihrem Tod belegen.

Neue Theorien

Im Jahr 2000 wurde der Zar und seine Familie von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Doch die Theorien über das Schicksal der Zarenfamilie verstummen bis heute nicht.

Einige hochrangige kirchliche Würdenträger zweifeln an der Echtheit der gefundenen Überreste. Sie sind nach wie vor davon überzeugt, dass die Zarenfamilie einem rituellen Mord zum Opfer gefallen ist.

Das Leben der Großfürstin Anastasia

Anastasia war die vierte Tochter von Zar Nikolaus II. und seiner Frau Alexandra, eine gebürtige großherzogliche Prinzessin von Hessen-Darmstadt. Ihre Eltern hatten sich aus Liebe verlobt, was in hohen Kreisen unüblich war, denn meist wurden Ehen arrangiert. Als Nikolaus’ Vater unerwartet jung starb, wurde Nikolaus Zar und nur wenige Wochen später fand die Hochzeit statt.

Nach vier Töchtern kam endlich der lang ersehnte Sohn. Die fünf Geschwister wuchsen in einer liebevollen Familie auf. Sie erhielten eine umfangreiche Ausbildung und hatten dennoch genügend Zeit füreinander. Anastasia und ihre Schwester Maria waren besonders eng verbunden. Außerdem kümmerte sich Anastasia liebevoll um ihren Bruder, der an der Bluterkrankheit litt.

Obwohl die Romanows zu den reichsten Familien der Welt zählten, führten die Kinder ein vergleichsweise einfaches Leben. So heißt es, dass sie auf harten Feldbetten schliefen und morgens kalt badeten, es sei denn, sie waren krank. Als die gesamte Familie ermordet wurde, war Anastasia gerade einmal 17 Jahre alt.

Der Mythos lebt weiter

Doch der Mythos um Anastasia lebt weiter. Anna Anderson war nämlich nicht die einzige Frau, die behauptete, dem Ermordungskommando entkommen und die überlebende Großfürstin Anastasia zu sein.

Dies inspiriert bis heute, wie die zahlreichen Bücher, Filme und Musicals über das Leben der Anastasia zeigen. Obwohl es wissenschaftlich bewiesen wurde, dass sie gemeinsam mit ihrer Familie ermordet wurde, glauben einige bis heute, dass Anastasia fliehen und irgendwo weiterleben konnte.

Literaturhinweise:

  • King, Greg & Penny Wilson. 2011. The Resurrection of the Romanovs: Anastasia, Anna Anderson, and the World’s Greatest Royal Mystery. Wiley.
  • Rappaport, Helen. 2009. The Last Days of the Romanovs: Tragedy at Ekaterinburg. St. Martin’s Press.
  • Sebag Montefiore, Simon. 2016. Die Romanows: Glanz und Untergang der Zarendynastie 1613-1918. S. Fischer.