Klischees Frauenrollen

Verkleidet durch die Sahara

Verkleidet durch die Sahara

Isabelle Eberhardt (1877–1904) reiste als arabischer Mann durch die Sahara und warf so europäische Klischees und Rollenerwartungen einfach über Bord.

Isabelle Eberhardt -gebürtige Schweizerin mit russischen Wurzeln, die durch Heirat die französische Staatsbürgerschaft erlangte- träumte früh davon, in die arabische Welt einzutauchen. Sie war fasziniert von orientalischen Geschichten, die ihr eine Art Flucht aus dem Alltag ermöglichten. Dann fasste sie den Entschluss, in die Wüste zu reisen und in eine völlig andere Welt einzutauchen. Mit zwanzig Jahren eroberte sie das damals französische Algerien.

Abneigung und Faszination

Als Isabelle Eberhardt nach Algerien reiste, wurde ein Traum war. Die arabische Welt mit ihren Düften und Lebensweisen beeindruckte sie zutiefst. Zugleich empfand sie das Benehmen der Europäer als unangenehm und abstoßend.

Sie störte sich daran, wie Europäer die Einheimischen von oben herab behandelten, weil sie eine „natürliche“ Überlegenheit anderen Völkern gegenüber empfanden. Isabelle Eberhardt wollte nicht überlegen sein, sondern dazugehören und mit dieser fremden Welt verschmelzen.

So konvertierte sie zum Islam, wurde Anhängerin des Sufismus. Zudem schnitt sie sich die Haare und vollzog eine multiple Verwandlung: sie kleidete und bewegte sich fortan als arabischer Mann.

Es scheint für sie die einzige Möglichkeit, auf die Krise der Zivilisation und des Individuums zu reagieren. […] Die damit verbundene Einsamkeit führt bei ihr zu wilden Sehnsüchten vom ursprünglichen Leben, das in Europa nicht mehr zu haben ist.

  • In: Frauen und Orientalismus: Reisetexte französischsprachiger Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, 2001, S. 204, von Natascha Ueckmann.

Ihre Verwandlung umfasste zentrale und wichtige Kategorien der eigenen Identität: Sie „wechselte“ das Geschlecht, die Kultur und die Religion, um sich frei bewegen zu können. Obgleich den Menschen teilweise bewusst war, dass es sich um eine Frau handelte, ließen sie sie gewähren.

Die schreibende Nomadin

Isabelle Eberhardt zog zu Fuß oder hoch zu Pferd durch die Wüste, schlief bei Beduinen und war als Schriftstellerin und geachtete Kriegsreporterin tätig. Das Vagabundenleben symbolisierte für sie Freiheit.

An Isabelle Eberhardts Schriften zeigt sich exemplarisch der unbehauste Mensch, der zum modernen Nomaden geworden ist, in einer Welt, wo nichts und niemand mehr einen festen Ort hat. Ihre Texte werden zum Sinnbild für die existentielle Verlorenheit des Menschen, der immer und überall der Fremde zu sein scheint […].

  • In: Frauen und Orientalismus: Reisetexte französischsprachiger Autorinnen des 19. und 20. Jahrhunderts, 2001, S. 204, von Natascha Ueckmann.

Gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen –einschließlich Familie, Eigentum, öffentliche Ämter und Aufgaben– war für sie eine Art der Sklaverei. Sie genoss lieber das Leben und mochte es, sich auf unterschiedliche Weise zu berauschen.

Flucht vor Erwartungen

Durch ihre Verkleidung entwich sie dem Alltag, den weiblichen Rollenklischees und der europäischen Kultur. Dadurch fand sie zeitweise zu sich selbst. Sie beschrieb ihre Zeit in der Wüste als Stunden jenseits oder außerhalb der Zeit.

Laut ihren Aufzeichnungen war sie davon überzeugt, dass sie als junge, europäisch-gekleidete Frau nie das gesehen oder erlebt hätte, was sie in Männerkleidern erfuhr. Die Welt wäre ihr –wie vielen Zeitgenossinnen– verschlossen geblieben. Ihr schien, als wäre die Welt für Männer gemacht, nicht aber für Frauen. Jedoch gelang es ihr, ihren eigenen, unkonventionellen Weg aus diesem Käfig zu finden.

Die Welt zu Füßen

Ihr abenteuerliches Leben endete früh, als sie versuchte, ihre Notizen aus ihrer überschwemmten Hütte zu retten. Es bleibt die Erkenntnis, dass denen die Welt zu Füßen liegt, die unterwegs sind und sich von Rollenklischees und gesellschaftlichen Erwartungen nicht aufhalten lassen.

Durch wahres Interesse und Verständnis lässt sich in Welten eintauchen, die einem durch Reiseführer nicht vermittelt werden können. Indem das Unbekannte zu einem Bekannten wird, verliert es an Sprengstoff – wovon auch der schwedische Schriftsteller Per J. Andersson schreibt:

Man lernt, dass die Welt gar nicht so seltsam ist, wie sie einem vorkam, als man noch zu Hause in seinem Kämmerlein saß und über sie nachgrübelte.

  • In: Vom Schweden, der die Welt einfing und in seinem Rucksack nach Hause brachte, 2018, S. 10, von Per J. Andersson.

Literaturhinweis:

  • Eberhardt, Isabelle. 1988. The passionate nomad: the diary of Isabelle Eberhardt. Boston: Beacon Press.